Publikation // Hochparterre, Treffpunkt Wasserhahn



Ein Architekt überlegt sich im Auftrag der SBB Infrastruktur, wie ein Raum gestaltet sein muss, um gemeinsames Arbeiten zu erleichtern. Seine Studie verbindet die Arbeit mit Ritualen, das Möbel mit dem Raum, das Büro mit dem Territorium. Das verbindende Element ist Wasser. Jean-Gilles Décosterd Vorschläge werden nun umgesetzt.

Wie oft stehen Sie von Ihrem Arbeitstisch auf und holen sich ein Glas Wasser? Und wo holen Sie es? Aus den Dispensern, die immer öfter in den Bürolandschaften herumstehen, weil das so amerikanisch professionell wirkt? Oder nehmen Sie Leitungswasser? Wechseln Sie bei diesem Gang mit ihren Arbeitskollegen ein paar Worte? Achten Sie auf die Qualität des Lichts im Sitzungszimmer? Nehmen Sie das Raumklima wahr? Jean-Gilles Décosterd interessiert sich für solche Fragen. Weil sie mit der Wahrnehmung von Raum und seiner Wechselwirkung mit dem Körper zu tun haben. Einem arbeitenden Körper, in diesem Fall: Im Auftrag der SBB Infrastruktur untersuchte er, wie heute Arbeitsräume zu organisieren sind. Nicht als Arbeitspsychologe, sondern als Architekt, der er ist.

Bis 2004 führte er mit Philippe Rahm zusammen ein Büro in Lausanne, das sich mit Projekten zur ‹physiologischen Architektur› profilierte – etwa mit dem Auftritt im Schweizer Pavillon an der Architektur-biennale Venedig 2002: Décosterd & Rahm bauten einen Raum, der über extrem helles Licht und reduzierten Sauerstoffgehalt Einfluss auf den Organismus der Besucherinnen und Besucher nahm. Jean-Gilles Décosterd erweiterte seither seine Fragestellung, ging von den Experimenten ‹in vitro› zu den Versuchen ‹in vivo› über. Die Basis seines Architekturverständnisses bilden zwar immer noch die physiologischen Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und dem Raum, der ihn umgibt und der via Luft, Licht, klimatische Bedingungen in ihn eindringt. Doch nun untersucht er auch, wie sich diese Wechselwirkungen auf das Zusammenspiel der Körper und auf das soziale Verhalten auswirken.

Rituale statt neue Möbel

«Zum Glück waren sich alle an der Studie Beteiligten darin einig, dass es keine neue Möblierung braucht. Wir konnten uns so auf die Form, wie gearbeitet wird, konzentrieren. Und darauf, welche Räume diese kollektive Tätigkeit braucht», fasst Jean-Gilles Décosterd zusammen. Und schliesst einen Exkurs darüber an, wie sich seit der Industrialisierung kollektive Arbeitsformen herausbildeten. Was wiederum die Organisation von Zeit und Raum beeinflusste, die sich zusehends in private und ökonomisch verfasste, kollektiv genutzte Räume, in Freizeit und Arbeitszeit differenzierte. Gemeinsam arbeiten, das stand zu Beginn der Lohnarbeit. «Wir haben heute flachere Hierarchien und eher fliessende Organisationen. Das ist in der Raumorganisation heutiger Büros ablesbar. Wir arbeiten immer noch zusammen, das heisst, wir treffen uns, verbringen Zeit miteinander. Auch ‹unproduktive› Zeit ist wichtig, weil wir uns als Gemeinschaft ja konstituieren müssen. Wir wollten diese kollektive Dimension mit einem neuen Ritual bekräftigen, das war die erste Idee. Das heisst aber auch, den Körper zu integrieren. Der Körper ist immer ein wichtiger Bestandteil von Ritualen.»

Zum Beispiel beim rituellen Kaffee im Büro, der vielen Arbeitgebern so unproduktiv erscheint. Jean-Gilles Décosterd bietet stattdessen Wasser an und mit Blick auf Arbeitsmediziner und den Theoretiker Paul Virilio, der sich über die stets immobiler werdende Menschheit beklagt, bittet er die Angestellten an Stehtische. Hier kommen sie zusammen, trinken Leitungswasser, stehend und aus ihrem eigenen, vom Lausanner Designbüro Fulguro gestalteten Becher aus Porzellan, und tauschen sich aus. Und sie tun ihren dehydrierten Körpern etwas Gutes. Sichtbar montierte Leitungen bedienen diese Wasserstellen, die im Grossraumbüro verteilt sind. In der Vertiefung unter der Wasserzufuhr liegt Moos, das von oben mit Wachstum förderndem Licht beleuchtet wird. Tropfwasser netzt das Moos und hält es am Leben, das Moos wiederum reinigt die Luft und legt eine feine Duftspur in das Büro. Moos wächst auch in der Zwischenwand der Sitzungsboxen, dem zweiten Ort ritualisierter Treffen, den Jean-Gilles Décosterd überarbeitete. Wasser, die durch das Moos feucht gehaltene Luft und die Beleuchtung, die mittels blauer und gelber FL-Leuchten die Lichtqualität auf den drei Schweizer Grenzseen simuliert, sind für ihn energetische Materialien. Sie tragen zu einem Raumklima bei, das den Austausch fördert; sie beeinflussen über die Atmung und den Blutkreislauf den Organismus.

Zweckdienlich

Bleibt die Frage, in welcher Form der Architekt das Wasser im Raum inszeniert, dem Ritual einen Raum zuweist. Die Wasserstellen integriert er in lange Stehtische. Ein verschweisstes Untergestell aus thermolackiertem, weissem Metall trägt eine 30 Millimeter starke Polyethylenplatte, ebenfalls in Weiss. Die Trennwände der Sitzungszimmer sind aus demselben Material, aber leicht transparent. Auch die Wasserleitungen sind weiss gestrichen. Offensichtlich sucht er Materialien, die sich nicht in den Vordergrund schieben. «Die Installationen müssen sich zurücknehmen. Die Möbel sind so neutral gestaltet wie möglich, und das aus zwei Gründen: Erstens dienen sie lediglich dazu, im Stehen Wasser zu trinken, und zweitens sollen sie für die SBB als öffentlichrechtliches Unternehmen, das mit Steuergeldern finanziert wird, einfach und günstig herzustellen sein und sich mit dem bestehenden Möbelprogramm ‹SBB 93› ergänzen.»

Dieses Argument verfängt auch beim Auftraggeber der Studie: Architekt Thomas Jomini, seit zwei Jahren bei der SBB Architektur, Division Infrastruktur, weiss, dass er die Geschäftsleitung mit Nutzen-Kosten-Argumenten leichter überzeugen kann als mit ästhetischen Debatten: «Bei intelligenten Projekten entsprechen die Kosten dem Aufwand. Wir überziehen die Budgets nicht und achten darauf, dass spezielle Anfertigungen nicht teurer als existierende Lösungen sind.» In diesem Fall hat es geklappt. Thomas Jomini ist darum besorgt, dass die Studie, die er als Direktauftrag erteilte und die in Buchform herausgegeben wird, kein Papiertiger bleibt. Den Praxistest erlebt die Studie ab Mitte Dezember in der Academia, eine im Frühling gegründete Organisationseinheit der SBB. Sie soll die interne Weiter- und Ausbildung vorantreiben. Guido Reber, Leiter Business Development Academia, und SBB-Architekt Thomas Jomini waren glücklich über die zwei Stockwerke mitten in Bern vis-à-vis des Bahnhofs, in denen sich die Academia niedergelassen hat.

Das Territorium und das Unternehmen

Die Academia ist eine kleine Einheit, sie zählt rund 30 Mitarbeitende. Sie arbeiten in einem offenen Raum. In diese bestehende Struktur schreibt sich nun Jean-Gilles Décosterds Konzept ein. Mitte Dezember ist alles installiert und wird, so das Versprechen, die Arbeit erleichtern. Décosterds Konzept lässt sich in alle geläufigen Bürotypologien einfügen – vom Einzelbüro über Multispace-Konzepte bis hin zum offenen Grossraumbüro.

Aber es gibt noch eine andere Komponente, die Jean- Gilles Décosterds Studie ein langes Leben bei der SBB verspricht: Er verknüpft in der Studie geschickt das Thema Wasser, das unseren Organismus in Gang hält, mit dem Selbstverständnis des Unternehmens. Denn das Schienennetz hat sich entlang der Wasserläufe entwickelt. So wie die Bahn und das älteste Kommunikationsnetz, die Wasserläufe, das ganze Land bedienen, so sorgt Wasser dafür, dass der Organismus funktioniert. Und eröffnet im Büro neue Kommunikationsmöglichkeiten. Thomas Jomini bestätigt: «Wir sind ein Unternehmen mit drei Netzen: die Schienen, das elektrische Netz und die Telekommunikation. Und Wasser könnte unser viertes Netz sein.»

Jean-Gilles Décosterd schliesst mühelos die Geschichte der Arbeitsformen mit dem durch Naturkräfte geformten Territorium, das Unternehmen mit der Mineralienkonzentration im Blut seiner Angestellten, kurz. Um am Schluss einen Vorschlag zu präsentieren, der sich zwar wie ein zusätzliches System in jedes beliebige Arbeitsmilieu einfügen könnte, mit der Gleichsetzung von Wasser- und Schienennetz aber Exklusivität für den Auftraggeber behauptet. Was in einer nächsten Phase übrigens noch verstärkt wird: So sind Wasserstellen auch auf den Bahnhöfen denkbar. Solche Vorschläge zu erarbeiten war möglich, weil die Studie sich nicht auf bestimmte Gebäude, auf ein neu einzurichtendes Büro beziehen musste. Ein Glücksfall? «Das ist selten. Und zugleich denke ich, das ist die einzige Art und Weise, wie man ein Projekt angehen soll», schliesst Jean-Gilles Décosterd.

Meret Ernst Treffpunkt Wasserhahn Hochparterre 45 12.06 Architektur, Landschaft, Design: Die Besten 06
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